Es geschah im Jahre 2002. am Sonntag, den 30. Juni mitten in Düsseldorf-Bilk auf der Kreuzung Gladbacherstr. - Neusser Str. - Lorettostr., an der Bilker Kirche, bei herrlichem Wetter, strahlendem Sonnenschein, mitten am Tag. "Rudis Riesen" hatten sich bis ins Finale der Fussball-Weltmeisterschaft durchgetrickst, und meinten völlig ernsthaft, jetzt auch noch Brasilien schlagen zu wollen.
Die Kneipe "Bossa Nova", ein bekannter Treffpunkt von Südamerikanern und Bilker Fans südamerikanischer Kultur, war komplett mit brasilianischen Fahnen tapeziert worden. Drinnen lieferte ein Beamer das Spiel auf eine Leinwand, draussen stand ein Fernseher und Boxen. Viele Boxen. Grosse Boxen. Draussen gabs ausser einem Bierstand noch eine Theke, hinter der drei Genies Caipirinha im Akkord mixten.
Gegenüber residiert das "Fiasco" mit seinem Ableger im Nebenhaus "Fiasco Spocht", einem ebenso bekannten Treffpunkt eingeborener Sport-Fanatiker. Auch hier war man gerüstet. Open-Air-Bier- und Grillstand, reichlich Fernseher drinnen und draussen, und auch Boxen. Nicht so grosse und nicht so viele Boxen wie gegenüber, aber immerhin.
An diesem legendären Sonntag waren die Strassen leer und die Kneipen voll. So auch "Bossa Nova" und "Fiasco". Dicke Menschentrauben standen davor und versuchten, noch einen Blick auf den Fernseher zu erhaschen. Mir gelang das nicht. Ich habe das Spiel nur gehört, aber nicht gesehen.
Nach den beiden Toren wurde der Ton jeweils kurzfristig auf Samba umgeschaltet. Das war schon ein Erlebnis für sich. Aber dann! Ein Schlusspfiff eines Schiedsrichters wird bei einem Spiel der Brasilianer offensichtlich anders interpretiert als bei uns: Nicht "Schlusspfiff" sondern "Anpfiff". Für die Fete.
Das Haus bebte kurz unter dem Siegesjubel, blieb aber stehen. Einige Sekunden später war die vorher leere Kreuzung rappelvoll. Es ist nicht zu fassen, wie viele Menschen in eine durchschnittlich große Kneipe passen, wenn es sein muss.
Die Musikanlage wurde auf Vollast hochgefahren, die ganze Kreuzung sang und tanzte. Gegenüber, am "Fiasco", wurden reichlich Deutschland-Fahnen geschwenkt, Presslufttröten gezückt, und vereinzelte "Deutschland, Deutschland"-Rufe verplätscherten in der kochenden Samba-Stimmung.
Allmählich kamen sich die beiden Blocks näher. Na? Was würde passieren? Randale? Handgreifliche Auseinandersetzungen, wie in der Altstadt immer wieder gesehen? Nichts von alledem. Wir sind hier in Bilk. Die integrative Kraft des Samba sorgte in kürzester Zeit für eine bunte Mischung der Fan-Massen.
Und genau hier ist auch der Grund für die Niederlage der deutschen Mannschaft zu suchen: In der Kultur. Die deutschen Fans hatten die grösseren Fahnen und schwenkten sie heftiger. Sie hatten auch die nervenden Presslufttröten. Aber wen interessiert das, wenn auf der anderen Strassenseite reihenweise braunhäutige Schönheiten tanzend auf die Strasse strömen? Liebe Leute: So werdet Ihr gegen Brasilien nie gewinnen. "Tröööt! Es gibt nur ein Rudi Völler!" hat gegen Samba genau gar keine Wirkung.
Die Beschallung des ganzen Viertels war kein Problem. Kaum jemand blieb in den Häusern. Strassenverkehr fand nur noch in vergeblichen Ansätzen statt. Irgendwann sah die Polizei ein, dass das so keinen Zweck hat, und sperrte die Kreuzung. Die Strassenbahnen wurden natürlich durchgelassen. Mehr als Schritttempo war nicht drin, aber es ging. Später gab die Rheinbahn es auf und schickte die Bahnen woanders lang.
Eine zufällig vorbeikommende Gruppe von Fans aus Kamerun wurde auch noch ordentlich abgefeiert. Das Fest war sowieso bilk-typisch international. Die Besatzung des Grillstands am "Fiasco" kam aus Pakistan, der Zappes am Bierstand sprach bestes Holländisch, die Mädels hinter der Theke des "Bossa Nova" kamen irjendswie alle aus verschiedenen Ländern Südeuropas und Südamerikas.
Nur einmal wäre es fast zu einem Zwischenfall gekommen: Ein tiefergelegter Fiesta mit Gelsenkirchener Kennzeichen und vielen Schalke-Aufklebern und Deutschland-Fahnen bahnte sich seinen Weg über die Kreuzung. Der quadratisch geformte Beifahrer muss eine Bemerkung falsch verstanden haben, und hüpfte mit erhobenen Fäusten aus dem Auto. Dann stand er da vor mehreren Reihen lachender Menschen, die ihm fröhlich zuprosteten. Das Gesicht, mit dem er wieder in das Auto plumpste, vergesse ich so schnell nicht.
Gegen dieses Fest wirkt ein Rosenmontag wie ein Kaffeekränzchen im Altersheim. Wer richtigen Karneval sehen will, der suche sich eine Gruppe Brasilianer und werfe einen Fussball mitten rein. Wie sagte Stoiber einst: "In einer durchrassten und durchmischten Gesellschaft möchte ich nicht leben." Das ist nett. Damit ist wenigstens gesichert, dass er in Bilk nie auftauchen wird.
Wie lange die Fete dauerte, weiss ich nicht. Vielleicht erzählt das mal jemand, der länger durchhielt als ich? Wer noch geeignete Fotos hat, melde sich! Sowas wie hier links zum Beispiel...?
Ein Kommentar zum Endspiel: "Was soll denn die Aufregung? Ist doch alles wie immer. Leverkusen ist Zweiter."