Wenn an der Hauptkreuzung eines Ortes vor allem die nächste Bundesstrasse in fünf Kilometern Entfernung ausgeschildert ist, mögen Vermutungen über die Tiefe der Provinz, in der mensch gelandet ist, angebracht sein.
Doch der Ort sieht nett aus. Der Impuls, das Auto abzustellen, und sich dieses Dorf genauer anzusehen, liegt nahe. Das ist der erste Fehler: Es ist kein Dorf, es ist eine Stadt. Die kleinste Stadt in Rheinland-Pfalz mit 1.200 Einwohnern ist Kyllburg, mitten im Nirgendwo in der südlichen Eifel.
Wie konnte das passieren? Im Mittelalter war Kyllburg, das eine Befestigung auf einem Berg inmitten einer Flussschleife sein eigen nannte, massiv im Vorteil. Eine gewonnenes Scharmützel zugunsten des aktuell über die Region herrschenden Despoten genügte, und die Stadtrechte waren vergeben.
Erst viel später, als auch die Eifel von zentralistisch orientierten preussischen Beamten regiert wurde, wurden die Stadtrechte wieder aberkannt. Der zähen und historisch wertvollen Recherche des Kyllburger Bürgermeisters Föst ist es zu verdanken, dass Kyllburg die Stadtrechte 1956 wieder erhielt.
Wen interessiert das? Sehr einfach: Die Kyllburger. Sie sind eben nicht Bewohner eines der tausend unbedeutenden Dörfern in den endlosen Weiten der Eifel. Sie bewohnen eine Stadt! Sie haben eine "Bedeutung"!
Bis zum Ende des zweiten Weltkriegs ist das unbestritten. Die Grösse und Bedeutung von Kyllburg entsprach grob den Städten Bitburg, Prüm, Gerolstein und anderen Orten, die auch geographisch unbelastete Menschen noch heute auf der Landkarte schnell finden.
Es gab sogar einen Vorteil: Kyllburg ist "Luftkurort". Früher war das wichtig. Mehr oder weniger betuchte Rentner liebten es, die Sommerwochen in solchen Orten zu verbringen. Die Zahlungsfähigkeit dieser Zielgruppe korrelierte mit der Reputation dieser Zielorte.
So kamen dann jedes Jahr Tausende von Erholungssuchenden nach Kyllburg und sorgten für eine angemessene Auslastung des Kyllburger Gastgewerbes. Das erste Haus am Platz war der "Eifeler Hof". Hier fand das bedeutendste Ereignis im 20. Jahrhundert statt, dass Kyllburg je erlebte: Kaiser Wilhelm der II. besuchte Kyllburg im Oktober 1911. Sowas wirkt.
Sowas wirkt lange. Es wirkt solange, wie noch Einheimische und Gäste als Augenzeugen davon zu erählen wissen. Leider haben wir jetzt 2004 und die Zeitzeugen leben alle nicht mehr.
Das Gastgewerbe von Kyllburg scheint nicht gemerkt zu haben, dass die Kundschaft der letzten Jahrhunderte nicht mehr existiert oder andere Ziele bevorzugt. Die anderen Städte der Eifel wuchsen. Kyllburg nicht. Kyllburg wollte das kleine, gemütliche Luftkurörtchen bleiben.
Dem neugierigen Reisenden, der einen kurzen Rundgang durch Kyllburg antritt, präsentieren sich viele Ensembles mit Fassaden aus dem berühmten Kyllburger Sandstein. Sowohl die Häserzeile an der Hauptstrasse, vom "Eifeler Hof" ausgehend, als auch der Bahnhof mit Nebengebäden und dem berühmten Portal des Kyllburger Eisenbahntunnels verdienen Beachtung.
Wer die Musse aufbringt, folge den Schildern zur "Mariensäule". Die Sandsteinskulpturen des Kreuzwegs weisen den Weg zu einer 15 m hohen Statue auf einem Berggipfel, die aus Mitteln des Vorgängers des "Eifelvereins" errichtet wurde. Dies geschah zu einer Zeit, als überall im Deutschen Reich Bismarckstatuen aufgestellt wurden. Das passte den Kyllburgern nicht. Sie schlugen den Berliner Wunsch aus, und finanzierten die Statue lieber selbst. Dann aber mit Maria als Abschluss statt dem "eisernen Bismarck". Das Material: Kyllburger Sandstein.
Wieder zurück im Ort, wird der neugierige Gast zum hungrigen Gast. Jetzt zeigen sich die aktuellen Probleme von Kyllburg. Es ist nicht trivial, mittags eine warme Mahlzeit zu bekommen. Der einzige Grill im Ort hat mittags geschlossen. Die letzten noch aktiven Hotels liegen eher abgelegen, oder haben mittags zu, oder haben zwar geöffnet, aber keine warme Küche.
Nahe dem Ortskern ist ein Busparkplatz ausgewiesen. Die Frage, wann dort zum letzten Mal ein Bus mit Touristen gesehen wurde, löst tiefes Nachdenken aus. Doch, gelegentlich kämen Reisegruppen zur Stiftskirche...
In einer Aussenstelle des Rathauses, "Haus des Gastes" genannt, regiert der für Fremdenverkehr zuständige Willi Müller (Nein, nur Namensvetter des neuen Bürgermeisters) über Bergen von Prospekten, die größtenteils woanders, von überörtlichen Stellen, produziert wurden. Sein Posten nennt sich "Leiter Verkehrsamt". Die Eingeborenen nennen ihn immer noch "Kurdirektor". Er bemüht sich heldenhaft. Er vertritt Kyllburg auf jeder belgischen Tourismus-Messe, auf das auch der letzte belgische Angler über die hervorragende Qualität der Forellen in der Kyll informiert sei.
Es wird niemanden wundern, dass der Katholizismus in Kyllburg dermassen präsent ist, dass die evangelische Kirche (unterhalb der Mariensäule) nur einmal im Monat zum Gottesdienst einläd.
Es wird wohl auch niemanden verblüffen, dass sich die CDU hier seit Jahren einer Mehrheit bayrischen Ausmasses erfreut.
Die Einzelhändler im Ort pflegen noch die gute alte Mittagspause. Wer sich kopfschüttelnd von dem mittags geschlossenen Imbiss ab- und der Bäckerei zuwendet, steht mittwochs auch dort vor geschlossener Tür. Hier liefert Kyllburg wirklich eine Sehenswürdigkeit: Die Gesichter niederländischer Wanderer nach der Übersetzung des Schildes mit den Öffnungszeiten.
1999 wurde Otto Böcker (CDU) zum Bürgermeister von Kyllburg gewählt. Der Mann ist Rektor einer Hauptschule im Nachbarort. Er fiel vielen Kyllburgern durch seine mangelnde Differenzierungsfäfigkeit bei der Kommunikation mit seinen Schülern einerseits und erwachsenen, wahlberechtigten Kyllburger Bürgern andererseits auf. Einige - für viele Kyllburger schwer nachvollziehbare - Entscheidungen sorgten immer wieder mal für Rumoren im Ort.
Offensichtlich polarisierte dieser Mensch die Kyllburger Wählerschaft für die Kommunalwahl 2004 derartig, dass zwar die CDU-Fraktion mit 9 Sitzen unverändert stark blieb, er selbst aber nicht im ersten Wahlgang gewählt wurde. Der unabhängige Kandidat verfehlte die absolute Mehrheit um ganze 4 Stimmen. Nach Rheinland-Pfälzischem Kommunalrecht hat ein wiedergewählter Bügermeister Anspruch auf eine Pension von ca. 900 EUR monatlich. Sowas motiviert. Aber auch den Gegenkandidaten und seine Anhänger, die gerade dies verhindern wollen.
Knappe Ergebnisse gab es in Rheinland-Pfalz bei dieser Wahl mehrfach. Zur Stichwahl traten dann nur noch 35-50 % der Wahlberechtigten an. In Kyllburg waren es 70 %. Hoppla!? Das ist noch ein Punkt, an dem Kyllburg interessant wird:
Die Polarisierung pro oder contra Bürgermeister Böcker reichte also aus, die Wahlbeteiligung zu verdoppeln? Was musste dieser Mann sich für Feinde gemacht haben! Sogar die SPD rang sich zu einer Wahlempfehlung für den unabhängigen Kandidaten durch.
Und dann geschah es: 1.200 Einwohner, ca. 800 Wahlberechtigte. Der unabhängige Winfried Müller gewann mit 305 Stimmen vor Otto Böcker (246).
Als ein der eifeler Gruppenhydraulik fremder Mensch könnte man meinen, es sei alles geklärt. Weit gefehlt! Natürlich macht es keinen Spass, als unabhängiger Bürgermeister gegen eine solide CDU-Mehrheit zu regieren. Aber bitte: Die WählerInnen wollten es so!
Nun müssen in der konstituierenden Ratssitzung die Beigeordneten gewählt werden. In grossen Städten ist das kein Problem. Allein das zu erwartende Salär motiviert lange Schlangen von Bewerbern. Nicht so in Kyllburg. Dieser Posten ist mit grosser Verantwortung, hoher Arbeitsintensität, und geringer Entlohnung verbunden. Auch der parteiinterne "Kamin-Effekt" ist zu vernachlässigen. "Du warst Beigeordneter wo...?".
So sassen die frisch gewählten Ratsmitglieder in den drei Tagen nach der Wahl in den überschaubar vielen Kyllburger Kneipen und redeten sich die Köpfe heiss. Es ist erstaunlich, welche Lautstärke Eifel-Bewohner beim politischen Streit entwickeln können.
Der demokratische Brauch fordert, dass die stärkste Fraktion den ersten Beigeordneten stellt, die zweitstärkste Fraktion den zweiten. Prinzipiell widersprach dem die CDU auch nicht, jedoch hatten sie für diese Konstellation leider keine passende Kandidaten. Es gab zwar zwei CDU-Kandidaten für diesen Posten, aber keiner der beiden wollte alleine, mit einem SPDler als zweiten Beigordneten, antreten.
Aber sie machte ein Angebot, dass in deutschen demokratischen Umgangsformen seinesgleichen sucht: Die SPD möge bitte ihren Kandidaten für den ersten Beigeordneten benennen, die CDU würde ihn einstimmig mitwählen. Er könne sich auch den zweiten Beigeordneten aussuchen, die CDU würde mitstimmen. Das ist eine Offerte an eine Oppositionspartei, wie sie vermutlich nur in Kyllburg möglich ist. Die Antwort leider auch: "Können wir nicht."
Halt! Doch! Eine Konstellation wäre noch möglich gewesen: Ein Mensch (wieder ein Lehrer) aus den Reihen der Unabhängigen hätte sich selbstlos als erster Beigeordneter geopfert. Aber hier waren sich CDU und SPD plötzlich einig: Der nicht! "Der geht ja zum Lachen in den Keller!"
Und so kamen sie alle zur konstituierenden Ratssitzung. Die Nerven blank, die Stimmen kaputt, die Motivation spürbar reduziert.
01.07.2004 18:00 im Sitzungssaal im "Haus des Gastes"
Wer eine solche Veranstaltungen aus grossen Städten kennt, der kann die Kyllburger Version nur sympatisch finden. Zehn Minuten vor Sitzungsbeginn ist der Saal noch nicht vorbereitet. Die eintrudelnden Ratsmitglieder rücken gemeinsam mit den ersten Zuschauern die Tische, stellen Stühle, und improvisieren Zuschauerreihe und Sitzordnung. Es kommen sehr viele Zuschauer, weitere Stühle werden geholt. Es dauert.
Ein Mensch in Schlips und Anzug kommt auf mich zu, stellt sich nicht vor, und fragt höflich, wer ich sei, und in welcher Funktion ich anwesend sei. Ich stelle mich mit Namen und "Öffentlichkeit" als Funktion vor. Er sagt, er müsse noch prüfen, ob mein Notebook "zulässig sei". So löste ich die vorletzte Amtshandlung des noch amtierenden Bürgermeister Böcker aus. Das Ergebnis der "Prüfung" wird mir nicht mitgeteilt. Ich hätte es ihm aber auch sagen können.
Seine letzte Amtshandlung: Die Eröffnung der Sitzung, Abhandlung der Formalien und Einführung seines Nachfolgers Winfried Müller. Otto Böcker nimmt dessen Vereidigung zum Anlass, ihn darum zu bitten, sich intensiv um die Kyllburger Kirmes zu kümmern. Die Vermutung, diese Art der Prioritätensetzung habe seine Wiederwahl verhindert, liegt nahe.
Beim Vorsprechen der Eidesformel fällt auf, dass Otto Böcker fast ununterbrochen zu hören ist. Winfried Müllers Wiederholungen der Formel können kein Gegengewicht zu Böckers akustischer Präsenz entwickeln. Ein Einwohner erklärt mir später, dass sei in seiner ganzen Amtszeit so gewesen.
Die SPD stellt keinen Kandidaten für den ersten Beigeordneten, also wird Reinholf Schneider von der CDU gewählt. Als zweiter Beigeordneter kandidiert Karl-Heinz Wolff für die SPD, Reiner Pint für die CDU. Letzterer wird erwartungsgemäss mit 9 Stimmen gewählt. Diese mit Spannung erwartete Wahl verläuft erstaunlich zügig, sachlich und frei von Auseinandersetzungen. Man hatte sich wohl in den Tagen davor schon ausgetobt.
Wieder etwas gelernt: Wenn Kyllburger in wilden Diskussionen weitere lautstarke Auseinandersetzungen im Stadtrat androhen, heisst das nichts. Sie haben die Querelen nur vorgelegt, und damit de facto abgehakt.
Und Kyllburg liegt immer noch in der touristenfreundlichen Sommersonne. Auf den großzügigen Balkonen der an die Berghänge gebauten Häuser sitzen die Alten und erinnern sich gerne an die glorreichen Zeiten, als die gut betuchte Kundschaft noch den "Luftkurort Kyllburg" zu schätzen wusste.
Die Jungen wissen nicht, wovon die Alten reden. Sie suchen lieber Arbeitsplätze weitab der Heimat. Was der neugewählte Stadtrat in dieser seltenen Konstellation daran ändern kann, bleibt abzuwarten.
Die wärmende Eifel-Sommersonne peilt den Horizont an. Plötzlich hat sogar der Imbiss geöffnet. Der "Kurdirektor" schliesst das "Haus des Gastes" ab und strebt seiner Lieblingskneipe zu.
Wer "erholsame Ruhe" als Qualitätsmerkmal vermarkten will, sollte aufpassen, dass er nicht "Friedhofsstille" verkauft.